Bottrop, Bochum, Bielefeld, Brandenburg sind Städte mit „B“, die man gelegentlich dienstlich bereist. In der vergangenen Woche führte mich eine Einladung des German Marshall Funds und der Bertelsmann Stiftung Nordamerika nach Boston. Die City of Boston ist eine der reichsten Regionen der USA. Die Arbeitslosenquote beträgt aktuell vier Prozent. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 57.000 Dollar. Bevölkerung und BIP wachsen über dem nationalen Trend. Die Wirtschaftskrise hat die Stadt Dank der modernen Wirtschaftsstruktur wenig berührt.
Gerechtigkeit. Ein unbequemes Thema.
Dennoch hat Bürgermeister Martin Walsh ein neues Thema aufgeworfen: Gerechtigkeit. Die besagten Stiftungen luden daraufhin in Zusammenarbeit mit der Stadt 16 Experten aus den USA und Europa ein, Strategien zu finden, wie die Stadt Boston Gerechtigkeit und Chancen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen stärken kann. Die Experten hörten in fünf Tagen etliche Vorträge aus Wissenschaft und Verwaltung, unternahmen diverse Stadtteilwanderungen, trafen Dutzende Stakeholder und generierten eine Reihe origineller Ideen.
Nötig ist diese Debatte in jedem Fall. Die Zentralbank hat im vergangenen Jahr eine interessante Zahl veröffentlicht. Das Netto-Vermögen der Haushalte nach Bevölkerungsgruppen in der Metropolregion Boston.
Klassischerweise bietet sich für die Darstellung ein Balkendiagramm an. Aber die Skala passt nicht auf den Bildschirm. Daher einfach die Zahlen. Eine „weiße“ Familie besitzt 247.500 Dollar. Eine „African American“ Familie acht. Nicht Achttausend, sondern acht Dollar. Dass daraus unterschiedliche Lebenschancen resultieren, ist offensichtlich. Die Ungleichheit des Vermögens ist sehr viel größer denn jene der Einkommen. Und sie wächst im Zeitalter der Post-Finanzkrise immer stärker.
Was kann die Stadt tun?
Zuerst einmal: sehr wenig. Es gibt keine Grundsicherung und auch keine Jugendhilfe. Öffentliche KITAs, die deutsche Antwort auf mittlerweile fast alle Probleme, existieren nicht. Ein privater KITA-Platz kostet rund 16.000 Dollar im Jahr. Duale Berufsausbildung ist unbekannt. Die Studiengebühren für Viele unerreichbar. ÖPNV ist ein weiteres Manko. Die drei U-Bahn Linien wurden nicht zufällig um bestimmte Viertel herum gebaut. Die Vororte verweigern sich ohnehin jeder Vernetzung. Dass es keinen Finanzausgleich gibt, haben wir schon in Detroit gelernt. Es bleibt als Finanzierung die Grundsteuer B. Aber auch wiederum nicht. Denn die Verfassung des Bundesstaates Massachusetts vermeidet Steuererhöhungen und die Hälfte der Grundstücke ist nicht steuerpflichtig. So wundert es kaum, dass die Region Boston einen Instandhaltungsstau von 7,3 Milliarden Dollar aufweist.
Letzte Chance: Zivilgesellschaft.
In Deutschland ist sie „nice to have“ und wird gelegentlich belächelt. In den USA ist sie unverzichtbar. In Boston tummeln sich wohl Hunderte Initiativen, Stiftungen, Philanthropen oder Kirchen und bieten elementare Leistungen an, für die nach unserem Verständnis der Staat zuständig ist. Allerdings ist nicht bekannt, wer sich wo tummelt und welche Leistungen anbietet. Eine der Empfehlungen der Expertengruppe besteht daher darin, ein „Mapping“ aller Leistungen vorzunehmen, alle Beteiligten zu versammeln und die Kollaboration zu stärken. Der Effekt der Zivilgesellschaft würde dadurch sicher erhöht. Nichtsdestotrotz bleiben die Lebenschancen davon abhängig, dass zufällig ein Privater eine öffentliche Leistung anbietet.
Und so schließe ich mit einem weisen Satz des estnischen Kollegen: Jeder ist seines Glückes Schmied. Aber Viele haben keinen Hammer.
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