Detroit hat sich für insolvent erklärt. Wie konnte es soweit kommen? Es gibt ein ganzes Bündel an Gründen hierfür. Der wohl wichtigste ist das System der kommunalen Einnahmen und dessen Effekte vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung. Dieses System hält einige Überraschungen bereit. Dass es Anleihen und Chapter 9 gibt, habe ich schon erwähnt. Was es nicht gibt, ist ein Finanzausgleich zwischen starken und schwachen Kommunen. Für uns nicht vorstellbar, in den USA Ausprägung des Wettbewerbsprinzips. Das Fehlen dieses Elements hat Konsequenzen. Detroit bekam sie zu spüren.
Schrumpfung in Zahlen
Schauen wir uns mal ein paar Zahlen an. Zuerst die Einwohnerzahl: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung verlor Detroit seit 1950. Das allein ist ein Problem. Es ist aber auch Symptom anderer Probleme. Nämlich des beispiellosen Wandels der Automobilindustrie, von der Detroit vollständig abhing. Zum anderen der Suburbanisierung, über die wir später im Blog auch noch reden müssen.
Nun, eine solche Kurve kann in keinem Land ohne Folgen auf den Haushalt einer Stadt bleiben. Aber wie wirkt sich die Kurve in Detroit aus.
Glücksspiel als Einnahmequelle
Dazu vergleiche ich die Einnahmen des Jahres 2004 mit denen des Jahres 2013. 2004 wähle ich, weil es der letzte einigermaßen erträglich rechtskonforme Haushalt war. 2013, weil es der letzte vor der Insolvenz ist.
2004 nahm Detroit knapp 1,9 Mrd. Dollar ein. Die Hälfte davon entfällt auf drei Quellen. Dazu ein paar Worte:
- Grundsteuer: Dies ist eine Steuer auf Immobilienbesitz im Stadtgebiet. Es gibt sie auch in Deutschland, aber in viel geringerem Umfang. In Detroit ist sie für US-Verhältnisse auch relativ klein im Anteil. Der Immobilienwert wird von der Stadt alle paar Jahre neu geschätzt. (In Deutschland geschah das zuletzt 1964.)
- Kommunale Einkommensteuer: Nicht etwa der Anteil einer Gemeinschaftsteuer wie in Deutschland, sondern eine eigenständige, zusätzliche Steuer für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt. 22 Städte in Michigan erheben sie. Detroit ist natürlich dabei mit einem Steuersatz von 2,5%. Die Vororte nicht.
- Schlüsselzuweisungen: Der Begriff ist eine grobe Übersetzung des „state revenue sharing“, das es in Michigan gibt. (Gibt es nicht in allen US-Bundesstaaten.) Anhand der gewichteten Bevölkerung fließen hier Gelder vom Land an die Kommunen. Bedarfsfaktoren gibt es nicht. Ein Ausgleich der Steuerkraft ist damit nicht verbunden.
Von den weiteren Einnahmepositionen ist noch die Casino-Steuer einen Exkurs wert. Das Glücksspiel war einer der Rettungsanker, den Detroit Ende der 1990er Jahre warf, um Jobs, innerstädtisches Leben und Steuereinnahmen zu schaffen. Moralisch sicher bedenklich, aber in der Not…
Wie Abbildung 1 zeigt, setzte in Detroit ab dem Jahr 2000 noch einmal eine neue Schrumpfung in ungeahntem Tempo ein.
Abwärtsspirale
Wie sah nun der Haushalt 2013 aus?
Er war kleiner. Und zwar um mehr als ein Viertel. Nominal. Was ist passiert? Schauen wir uns noch mal die wesentlichen Einnahmequellen an:
- Grundsteuer: Sie entwickelt sich im Aufkommen in enger Anlehnung an die Immobilienwerte der Stadt. In einer schrumpfenden, armen Stadt wie Detroit kennt dieser Wert nur eine Richtung. Nach unten. Hinzu kommt, dass viele Bürger die Steuer einfach nicht mehr zahlen, Insolvenz anmelden oder ihr Haus fluchtartig zurücklassen. Auch die Stadtverwaltung selbst hatte irgendwann nicht mehr die Verwaltungskraft, Steuern einzutreiben.
- Kommunale Einkommensteuer: Die Arbeitslosenquote stieg exponentiell, die Beschäftigung sank, damit auch die Einkommen als Grundlage der Einkommensteuer.
- Schlüsselzuweisungen: Die Bevölkerung schrumpfte, damit automatisch auch die Summe der Zuwendungen des Landes. Hinzu kommt, dass das Land Michigan die Verteilungsformel zu eigenen Gunsten änderte.
Für die Entwicklung dieser drei Einnahmearten kann Detroit direkt nichts. Die soziodemografischen Trends und Entscheidungen des Landes wirken sich in diesem Einnahmesystem eben auf diese Weise aus.
Und die Casinos….. Detroit hatte finanziell 30 Jahre wahrlich kein Glück. 2009 kam auch noch Pech dazu. Die Stadt hatte Zinsderivate gekauft, um Anleihen abzusichern. Die Haushaltslage der Stadt verschlechterte sich so sehr, dass diese 2009 plötzlich und unerwartet fällig wurden. Die Stadt konnte nicht zahlen und verpfändete einen Teil der Casino-Steuer.
Straßenlampen bleiben dunkel
Was tut eine Stadt konfrontiert mit dieser Einnahmeentwicklung? Irgendwann beantragt sie wohl Insolvenz….. Aber in den Jahren davor hat Detroit Einiges versucht. Man erhöhte die Sätze der Grund- und Einkommensteuer bis auf den gesetzlichen Höchstwert und eigentlich auch darüber hinaus. (Das Land hat nicht so genau hingesehen.) Und man kürzte Ausgaben, schloss Einrichtungen, verzichtete Jahrzehnte auf Instandhaltung etc. An Zahlen messbar wird dies bei den Personalstellen. Binnen zehn Jahren baute Detroit fast die Hälfte des Personals ab. In einigen Abteilungen auch mehr. So wird auch klar, warum nur 40% der Straßenlampen funktionierten. Warum das Büro des OBM früher 100 Leute hatte, ist dagegen nicht so eingängig.
Klar ist, dass dieser Stellenabbau zu einem Verlust an Qualität führt. Das abstruse Resultat: Nirgends im Land waren die Steuern höher und die Leistungen schlechter als in Detroit. Damit vertrieb man Stück für Stück die Mittelschicht aus der Stadt und verlor weitere Einnahmen. Ein Teufelskreis.
Finanzausgleich löst Erstaunen aus
Das Problem der Schrumpfung kann nur im System der kommunalen Einnahmen gelöst werden. In Deutschland gibt es dafür den Finanzausgleich. Dieser Begriff hat bei den amerikanischen Gesprächspartnern für große Verwirrung gesorgt. Ich habe ihn mit „fiscal equalization“ übersetzt, weil es ihn ja nicht gibt. Wie kann das funktionieren, dass die reichen für die armen Städte verzichten? Freiwillig tun sie es ja auch in Deutschland nicht. Aber es ist Allen bewusst, dass es ihn geben muss, um solche Spiralen nach unten zu verhindern.
Wie ginge es wohl Gelsenkirchen ohne Finanzausgleich?
Es scheint, in diesem System bei diesem Strukturwandel hatte Detroit keine Chance. Die hat es aber auch nicht genutzt. Erfahren Sie am Mittwoch: Die andere, die düstere Hälfte des Weges in den Bankrott.
Foto: Dr. René Geißler
Der externe Effekt der Automobil-Konjunktur ist hier wohl übermächtig. Aber ich bin gespannt auf die bereits angedeutete Stadt-Umland-Problematik – wurde die Stadt durch die Suburbanisierung quasi finanziell trockengelegt?
Der beschriebene Schrumpfungsprozess gerade im Personalbereich konnte ob seiner Radikalität nicht kontrolliert, unter Wahrung der elementarsten Leistungsfähigkeit erfolgen. Aber vielleicht helfen bei den gegebenen Perspektiven nur für uns undenkbare, radikalere Maßnahmen?
Ein großer Teil der finanziellen Probleme ist auf die Suburbanisierung zurückzuführen. Jene ist aber nicht nur budgetär schädlich, dazu in Teil 5 mehr. Der Personalabbau verlief nicht planmäßig. Ein für uns undenkbarer Schritt war ja im Grunde die Insolvenz. Sie hat für die Beschäftigten direkte und dauerhafte Auswirkungen.
„Klar ist, dass dieser Stellenabbau zu einem Verlust an Qualität führt.“
Aus den vorgelegten Zahlen ist das nicht klar. Wenn von 1950 bis 2010 die Einwohnerzahl um 64% sinkt, dann braucht man auch nicht so viele Dienstleistungen und kann das städtische Personal auch herunter fahren. Um es „klar“ zu machen, müssten die Vergleichszahlen ab 1950 da sein.
Zudem ist 2008 die Weltwirtschaft fast gecrasht. Da musste Detroit wie jeder andere auch die Folgen der Megazockerei der Neoliberalen ausbaden. Ich hatte mir 2009 die Haushaltszahlen von New York City angesehen. Da krachte es auch gewaltig. Die Lehrerbezahlung stockte: vom Bund, aber das Land wollte nicht weiterreichen. Bürgermeister Bloomberg sagte dann, dass er dann eben massenweise Lehrer entlassen würde. Die Feuerwehr musste den Führungsoffizier auf jedem Wagen mitarbeiten lassen wie in den anderen Bundesstaaten. Die Immobilienpreise in Manhattan verfielen drastisch: man konnte 40-stöckige Gebäude für 250.000 $ kaufen (mit ein paar Hypotheken 🙂
Die Mittelschicht ist auch fast raus aus Manhattan. Ehemals bürgerliche Wohnblöcke von WASPs in Queens und Brooklyn haben bei katholischen Kirchen sonntags folgende Messen: 5 spanische, 2 polnische, 1 englische. Die an der Wall Street reich gewordenen Zocker wohnen lieber auf Long Island.
Da muss man möglicherweise genauer hinsehen, was in Detroit spezifisch ist und was US-allgemeine Entwicklung.
Der Finanzausgleich in deutschen Kommunen ist auch unglücklich. Verarmte, überschuldete, geschrumpfte Ruhrgebietskommunen nahmen Kredite auf, um überflüssige Autobahnbauwerke im Osten zu finanzieren: Tunnel südlich von Jena, Tunnel östlich von Cottbus, weil in beiden Fällen seltene Tierarten untertunnelt wurden. Oder die Ostwestautobahn in Meck-Pomm, die unterausgelastet ist. Dafür stehen viele Kommunen in NRW jetzt unter Aufsicht des Landes und dürfen keine Insolvenz machen wie Detroit.
1950 hatte die Stadtverwaltung ungefähr 30.000 Beschäftigte. Vergleicht man Bevölkerung und beschäftigte an den Stichtagen 1950 und 2010 so scheint das eine parallele Entwicklung gewesen zu sein. War es aber nicht. Der extreme schnelle Abbau ab 2003 erfolgte nur einnahmegetrieben, zufällig, ohne Konzept, ohne Änderung der Organisationsstruktur oder Prozesse. Das kann nicht ohne Effekte auf die Leistungsfähigkeit bleiben.
Die Effekte der Weltwirtschaftskrise und allgemeine Systemmängel treffen natürlich auch Detroit. Nur trafen sie hier auf eine Stadt in Siechtum, schlecht regiert, hoch segregiert. Die Folgen waren daher sehr viel härter.
Der angesprochene Solidarpakt läuft ja nun 2019 aus. Mit der Haushaltskrise des Ruhrgebiets hat das natürlich nichts zu tun, denn die begann schon in den 1980er Jahren. Auf der anderen Seite profitierte auch das Ruhrgebiet über Jahrzehnte durch besondere Fördermittel.
Eine Gemeinsamkeit zwischen Ruhrgebiet, Ostdeutschland und Detroit ist die offensichtliche Schwierigkeit aktiver Strukturpolitik.
Das Fehlen eines kommunalen Finanzausgleichs (KFA) ist sicherlich ein wichtiger Erklärungsfaktor der Misere Detroits. Die state revenue sharing -Systeme der USA entsprechen eher dem kommunalen Einkommensteuer- oder Umsatzsteueranteil in Deutschland als einem klassischen Finanzausgleich, da in den state revenue sharing-Systemen explizit kein Ausgleich zwischen Finanzbedarf und Finanzkraft erfolgt, weshalb die besondere Bedarfslage Detroits nicht adäquat berücksichtigt wurde.
Eine Orientierung an deutschen KFA-Systemen wäre hilfreich gewesen, da viele Bundesländer die Abgeltung von Sonderbedarfen (z.B. Soziallastenansatz, Zentraler-Orte-Ansatz, Ansatz für demografischen Wandel) kennen, von denen Detroit sicherlich profitiert hätte, auch bei rückläufiger Bevölkerungszahl (insbesondere wenn v.a. die gut verdienenden Mittelschichten aus den Zentren fliehen).
Auch ohne direkte interkommunale Umlagen / Finanzausgleichszahlungen (wie vom Text suggeriert) ließe sich Solidarität zwischen Kommunen (zumindest indirekt) herstellen, indem man entsprechend ausdifferenzierte Bedarfsansätze bei der Verteilung bestimmter Steuereinnahmen auf die Kommunen zu Grunde legt. Im Vergleich zu einer bedarfsunabhängigen Verteilung der Mittel würden bedürftigere Kommunen einfach mehr von der Verteilungsmasse erhalten als reichere Kommunen; letztere würde sich somit ebenfalls solidarisch zeigen, allerdings dürfte das Verfahren möglicherweise weniger konfliktlastig sein als Umlagen / direkte Ausgleichszahlungen, da die reicheren Kommunen nicht das Gefühl hätten, das man ihnen etwas weg nimmt.
Der Gedanke der Umverteilung ist den USA fremd. Auf Ebene der Bundesstaaten können hierfür u.a. historisch-politische Konfliktlinien eine Rolle spielen (profitiert hätten viele Jahrzehnte die Südstaaten). Auf kommunaler Ebene innerhalb der Staaten wird als Argument gegen Umverteilung die kommunale Autonomie angeführt, dies es verbietet, finanzstarke Gemeinden zu belasten. Im state-revenue-sharing gibt es bewusst keine Bedarfsfaktoren, aber gewichtete Einwohnerzahlen. Große Städte erhalten pro-Kopf höhere Sätze, was man als indirekte Bedarfsorientierung auffassen kann. Im extremen Fall Detroits war das Alles natürlich viel zu wenig.